Ukraine: USA liefern Patriots gegen Russlands Raketenterror (2024)

Nach langem Zögern reagieren die USA auf den russischen Raketen- und Drohnenkrieg gegen die zivile Infrastruktur der Ukraine. Mit Patriot erhält Kiew eines der leistungsfähigsten Flugabwehrsysteme. Bis es einsatzbereit ist, kann es allerdings noch Monate dauern.

Christian Weisflog, Washington

4 min

Ukraine: USA liefern Patriots gegen Russlands Raketenterror (1)

Lange sträubte sich der amerikanische Präsident Joe Biden gegen die Lieferung von Patriot-Flugabwehrsystemen an die Ukraine. Angesichts der prekären Energieversorgung in dem Kriegsland stimmte er dem Transfer nun trotzdem zu und wird diese Hilfe am Mittwoch zeitgleich mit dem überraschend angekündigten Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski bekanntgeben. Das teilte das Weisse Haus mit.

Das Patriot-Radar kann bis zu fünfzig Ziele erfassen und fünf gleichzeitig bekämpfen. Bis das hochkomplexe Gerät von ukrainischen Soldaten selbst bedient und unterhalten werden kann, wird die kälteste Zeit des Winters jedoch wohl bereits vorbei sein. Die voraussichtlich mehrere Monate dauernde Ausbildung soll in einem Drittland erfolgen, nach unbestätigten Berichten in Deutschland. Der Transfer umfasst vorerst lediglich eine einzige Patriot-Batterie. Eine solche besteht aus bis zu acht fahrbaren Startrampen mit jeweils vier Abwehrraketen.

Personalintensiv und nur begrenzt verfügbar

Selenski bettelte seit Monaten um die Lieferung von Patriot-Abwehrraketen. Dass Moskau den Winter zur Waffe machen und die zivile Energieversorgung der Ukraine angreifen würde, war erwartbar. Trotzdem schreckte die amerikanische Regierung aus verschiedenen Gründen davor zurück, eines seiner modernsten Flugabwehrsysteme an Kiew zu liefern.

Die Lieferung von Patriot-Raketen mit einer Reichweite von bis zu 160 Kilometern könnte zu einer weiteren Eskalation des Krieges führen, hiess es immer wieder aus Regierungskreisen in Washington. Mehr Gewicht hatten indes ganz praktische Gegenargumente: Das Flugabwehrsystem ist kompliziert und nur in begrenzten Mengen vorhanden. Um eine Patriot-Rakete abzufeuern, reichen zwar 3 Personen. Doch um eine Batterie langfristig zu unterhalten, braucht es 90 Soldaten. Die Hardware umfasst neben den mobilen Startrampen eine Radarstation, einen Antennenmast, einen Stromgenerator und ein Kommandofahrzeug. Die Ausbildung zum Patriot-Mechaniker dauert über ein Jahr.

Eine umgehende Lieferung an die Ukraine hätte deshalb die Stationierung amerikanischer Soldaten im Kriegsgebiet erfordert. Dies schloss Biden stets kategorisch aus. Selbst die amerikanischen Streitkräfte verfügen lediglich über fünfzehn Patriot-Bataillone mit je vier Batterien – sogenannten Fire Units. Drei dieser Einheiten verlegten die USA bereits im April nach Polen und in die Slowakei. Auch andere Nato-Staaten wie Deutschland, die Niederlande, Griechenland oder Spanien besitzen Patriot-Raketen. Die Niederländer und die Deutschen haben ebenfalls im Frühjahr Patriot-Einheiten in die Slowakei entsandt, damit Bratislava seine sowjetischen Flugabwehrraketen des Typs S-300 an die Ukraine liefern konnte.

Um die grössten Städte und die wichtigsten Infrastrukturen zu schützen, brauche die Ukraine ungefähr fünf bis zehn Patriot-Batterien, sagte der amerikanische Sicherheitsexperte Cedric Leighton dem Fernsehsender CNN vergangene Woche. «Das würde rund zehn Milliarden Dollar kosten.» Vor allem am rechten Rand der Republikanischen Partei mehren sich die kritischen Stimmen gegen weitere Hilfspakete für die Ukraine.

Das grössere Problem bei den Patriot-Systemen dürften aber nicht ihre Kosten sein, sondern ihre Verfügbarkeit. Zweigen die USA oder andere Nato-Staaten das Gerät aus ihren Beständen ab, könnte es anderswo fehlen. «Wir müssen vorsichtig sein, dass dies nicht die Fähigkeit der USA beeinträchtigt, ihre Kräfte global spielen zu lassen», erklärte der Sicherheitsexperte Tom Karako gegenüber der «Washington Post».

Die Produktion neuer Raketenabwehrsysteme braucht viel Zeit. Die Schweiz etwa will fünf Patriot-Einheiten kaufen. Die Lieferung wird allerdings erst zwischen den Jahren 2026 und 2028 erwartet. Die langen Lieferfristen für komplexe Rüstungsgüter sind ein Grund dafür, warum die ukrainische Flugabwehr derzeit einem Patchwork aus alten sowjetischen Technologien und neueren Systemen aus unterschiedlichen Nato-Ländern gleicht.

In den vergangenen Monaten hat die Ukraine verschiedene westliche Abwehrsysteme erhalten, darunter das amerikanisch-norwegische Nasams, das deutsche Iris-T und die französischen Crotales. Um möglichst schnell weitere Nasams-Einheiten an die Ukraine liefern zu können, versucht Washington derzeit im Nahen Osten verschiedene Länder davon zu überzeugen, ihr Gerät abzugeben, um später neue zu erhalten.

Geeignet gegen Vielzahl von Bedrohungen

Mit den Patriot-Raketen kann die Ukraine dereinst wichtige Lücken in ihrer Flugabwehr schliessen. Das System kann hoch fliegende ballistische Raketen, Marschflugkörper, Flugzeuge oder Drohnen in einer Entfernung von 35 bis 160 Kilometern treffen. Die Reichweite hängt davon ab, welche Abwehrraketen die USA an die Ukraine liefern werden. Die grössere Reichweite bringe auch eine grössere Verantwortung mit sich, zwischen Freund und Feind unterscheiden zu können, sagt Karako. «Man muss sicher sein, worauf man schiesst.»

Bei Bidens Risikoabwägung könnte auch Iran eine Rolle gespielt haben. Während die Raketen in den russischen Arsenalen offenbar knapp werden, soll Teheran eine Lieferung ballistischer Raketen an Moskau vorbereiten, die eine Reichweite von 300 bis 700 Kilometern haben. Gegen diese Gefahr dürften die Patriot-Systeme ein effektives Mittel sein. Weniger sinnvoll erscheint der Einsatz der teuren Abwehrraketen gegen die billigen iranischen Kamikaze-Drohnen. Aber auch diese haben dem ukrainischen Stromnetz erheblichen Schaden zugefügt. Jüngst waren in der südlichen Hafenstadt Odessa 1,5 Millionen Menschen ohne Licht in ihren Häusern.

Trotzdem könnten die Patriots auch gegen die Schwärme kleiner Drohnen helfen, schreibt der «Business Insider». Die russischen Angriffe erfolgen oft in massierten Wellen, um die ukrainischen Abwehrsysteme zu überfordern. Indem Patriot-Raketen ballistische Raketen und Marschflugkörper abfangen, können sich die übrigen Abwehrsysteme künftig vermehrt auf die Drohnen konzentrieren.

Ob dies reicht, um Russland von seinem Krieg gegen die zivile Infrastruktur der Ukraine abzubringen, wird sich zeigen müssen. Neben weiter reichenden Flugabwehrsystemen forderte Kiew von Washington auch stets die Lieferung von präzisen Boden-Boden-Raketen, die bis zu 300 Kilometer fliegen können – sogenannte Atacms. Ähnlich wie bisher bei den Patriot-Systemen fürchtet die amerikanische Regierung jedoch eine weitere Eskalation, sollte Kiew derartige Kurzstreckenraketen erhalten und damit Ziele auf russischem Territorium angreifen.

Passend zum Artikel

Der Krieg in der Ukraine zehrt auch die amerikanischen Waffenlager aus Die Ukraine hat auf dem Schlachtfeld die Oberhand gewonnen. Entscheidend waren dabei Waffensysteme, die selbst in den Arsenalen der USA nicht endlos vorhanden sind. Um ihre Produktion zu erhöhen, braucht die Industrie viele Monate oder gar Jahre.

Christian Weisflog, Washington

Kommentar Der Krieg in der Ukraine offenbart: Ohne den Beistand der USA gibt es kein freies und sicheres Europa Die USA sind Europas Schutzengel – die Europäer sollten ihre Geringschätzung zügeln. Mit ihrem Zögern stärken Berlin und Paris in Washington jedoch isolationistische Kräfte, die den alten Kontinent lieber seinem ungewissen Schicksal überlassen würden.

Christian Weisflog, Washington

Ukraine: USA liefern Patriots gegen Russlands Raketenterror (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Lidia Grady

Last Updated:

Views: 5977

Rating: 4.4 / 5 (65 voted)

Reviews: 88% of readers found this page helpful

Author information

Name: Lidia Grady

Birthday: 1992-01-22

Address: Suite 493 356 Dale Fall, New Wanda, RI 52485

Phone: +29914464387516

Job: Customer Engineer

Hobby: Cryptography, Writing, Dowsing, Stand-up comedy, Calligraphy, Web surfing, Ghost hunting

Introduction: My name is Lidia Grady, I am a thankful, fine, glamorous, lucky, lively, pleasant, shiny person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.